30.05.2022 – Kategorie: Wirtschaft & Politik
Bisher kaum Ausfälle in der Gasversorgung – aber die Zukunft bleibt ungewiss
Der Ukraine-Krieg hat die Belieferung Deutschlands mit russischem Erdgas bisher weniger beeinträchtigt als vielfach angenommen. Doch eine echte Befreiung aus Putins Gas-Diktat bringt erst der Übergang vom fossilen Erdgas zum grünen Wasserstoff.
Am 30. März 2022 hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Frühwarnstufe des „Notfallplans Gas“ ausgerufen – erstmals seit dessen Einführung. Seither ist die Bundesnetzagentur (BNA) als nachgeordnete Behörde des Ministeriums verpflichtet, auf ihrer Website täglich einen „Lagebericht Gasversorgung“ zu veröffentlichen. Die aktuellen Daten dieses Reports zeigen: Entgegen der Aufregung über ein mögliches „russisches Gasembargo“ hat sich der real gemessene Zufluss von russischem Erdgas nach Deutschland bis Ende Mai kaum verändert.
Gaszufluss aus Russland: bisher weitgehend stabil
Am größten der drei „Übergangspunkte“ der russischen Ferngasleitungen, in Greifswald-Lubmin an der deutschen Ostseeküste, ist der Zufluss seit Monaten konstant. Ein „kurzer Durchhänger“ Mitte März war mehr dem überraschend warmen Wetter geschuldet als einem russischen Lieferausfall. Auch in Waidhaus (Bayern), dem Übergabepunkt der südlichen Pipeline, kam bis zum 10. Mai durchgehend das erwartete Gasvolumen an. Seither jedoch macht sich dort laut BNA die Tatsache bemerkbar, dass die Ukraine die Durchleitung des russischen Gases durch ihre Leitungen reduzieren musste. Wegen der heftigen Kämpfe zwischen russischen und ukrainischen Truppen im Donbass-Gebiet ist der ordentliche Betrieb einer wichtigen Verdichterstation an der Ukraine-Transit“-Pipeline derzeit nicht möglich, die täglichen Lieferungen sind um rund ein Viertel zurückgegangen.
„Unterm Strich haben sich die gelieferten Gasmengen bis heute nicht grundlegend verändert – weder vor Kriegsbeginn noch danach“, sagt Fiete Wulff, der Pressechef der Bundesnetzagentur. Nur am Übergangspunkt Mallnow zwischen Deutschland und Polen sei seit dem Embargo Russlands gegen Polen praktisch kein Gas mehr geliefert worden. „Aber das war auch schon die sechs Monate nicht viel anders.“
Die Netzagentur rechnet auch weiterhin mit einer kontinuierlichen Belieferung durch die russischen Gaskonzerne. Aber Wulff schränkt ein: „Natürlich kann zurzeit niemand voraussagen, wie es mit den Lieferungen wirklich weitergeht. Alles hängt von der weiteren militärischen Entwicklung in der Ukraine ab – und von den politisch-wirtschaftlichen Entscheidungen in Moskau.“
Im Notfall entscheidet die Bundesnetzagentur
Entspannung, so sagt der BNA-Sprecher, sei also in der Frage der Gasversorgung für alle Energieverantwortlichen in Deutschland keinesfalls angebracht. „Wir beobachten die Lage täglich mit gespannter Aufmerksamkeit.“
Dazu hat die Bundesbehörde allen Grund. Denn im Falle einer echten „Gas-Mangellage“ wäre die BNA exakt die Behörde, die diesen Mangel zu verwalten hätte. Sie hat dafür auch schon einige Grundregeln aufgestellt. Geschützt vor Liefereinschränkungen wären im Notfall zuallererst wichtige Infrastruktureinrichtungen wie Krankenhäuser, Wasser- und Klärwerke sowie Behörden mit Ver- und Entsorgungsaufgaben – und die privaten Verbraucher. Von Gasausfällen betroffen wären als erstes Freizeiteinrichtungen wie Spaßbäder, Veranstaltungshallen oder Sportstätten – aber auch „Firmen ohne Versorgungscharakter“.
Die Gasversorgung vor dem Ukraine-Krieg
Schon seit Jahrzehnten kann das Hochindustrieland Deutschland seinen immensen Gesamtbedarf an Primärenergie (2021: 12,3 Petajoule) nur zu einem kleinen Anteil aus heimischer Produktion decken. Nach dem Erdöl (2021: 32,3 Prozent) ist Erdgas der zweitwichtigste Primärenergieträger für Deutschlands Wirtschaft und Verbraucher (zuletzt 26,8 Prozent). Beide Energie-Rohstoffe müssen fast vollständig importiert werden – mit laufend steigenden Kosten und nicht selten aus Ländern, die als „politisch unzuverlässig“ einzuschätzen sind.
Während das Erdöl aus einer Vielzahl von Lieferländern stammt, importiert Deutschland sein Erdgas aktuell aus nur drei relevanten Quellen: aus Russland (2021: rund 53 %), Norwegen (rund 37 %) und den Niederlanden (zuletzt 9 %). Die extreme Abhängigkeit vor allem vom Gasimport aus Russland wurde im Inland lange nicht als Problem wahrgenommen. Ausländische Partner wie die USA, aber auch viele EU-Länder, warnen hingegen schon lange vor dem überragenden Einfluss Russlands auf die Gasversorgung in Europa und besonders in Deutschland.
Zeitenwende auch in der deutschen Gasversorgung
Mit dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 hat sich die Sicht auf die Energieabhängigkeit vom „russischen Bären“ hierzulande grundlegen verändert. Direkt nach der „Zeitenwende“-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz (27. Februar) hat Wirtschaftsminister Habeck angefangen, diese Abhängigkeit zu verringern – so rasch und dauerhaft wie möglich.
Das schwierigste Problem dabei: die extreme Abhängigkeit der deutschen Gasversorgung von dem Rohstoff aus Sibirien. Der nämlich wird über riesige Druckleitungen direkt nach Ost- und Mitteleuropa geführt. Die Leitungen zementieren die Abhängigkeit vom Gasfluss aus Russland auf lange Zeit – für beide Seiten. Denn Häfen, an denen Flüssiggas (Liquified Natural Gas – LNG) von Gastankern aus unterschiedlichen Lieferländern entladen werden könnte, hat Deutschland bislang nicht gebaut. Diese „Lücke im System“ will die Bundesregierung nun möglichst schnell schließen – mit dem Bau von LNG-Terminals an der Nordseeküste.
Gasspeicherung: große Teile in russischer Hand
Die Lagermöglichkeiten für den so dringend benötigten Rohstoff sind begrenzt. Insgesamt verfügt Deutschland nach Angaben der Wissenschafts-Akademie Leopoldina über 51 Kavernenspeicher mit einem Volumen von 25 Milliarden Kubikmetern – umgerechnet einer Energiekapazität von 275 Terawattstunden (TWh). Das entspricht etwa 30 Prozent des deutschen Jahresverbrauchs an Erdgas.
Hinzu kommt: Die deutsche Gasindustrie hat in den letzten Jahren ihre Anteile an einigen der größten Gasspeicheranlagen Europas verkauft. Und das nicht an irgendjemand: Riesige Speicher gingen ausgerechnet an Sub-Einheiten von Gazprom Germania – der Deutschland-Tochter des russischen Erdgas-Giganten Gazprom in Sankt Petersburg. Der ist für Europas Gaserbraucher der wichtigste Spieler im Netz: Der Weltmarktführer fördert den Rohstoff in Sibirien und transportiert ihn über sein eigenes Fernleitungsnetz nach Ost- und Mitteleuropa.
Kurz nach dem Auslösen der Gasnotrfall-Frühwarnstufe hat der grüne Wirtschaftsminister einen weiteren Schritt getan, den ihm viele nicht zugetraut hätten: Anfang April hat er Gazprom Germania unter staatliche Aufsicht gestellt. Als Treuhänderin fungiert seither die ministeriums-eigene Bundesnetzagentur (BNA). Die hat damit auch den Speicherbetreiber Astora unter ihrer Verfügungsgewalt, eine Tochterfirma von Gazprom Germania.
Gazprom-Speicher sind praktisch leer
Der Astora-Speicher in Rheden (Niedersachsen) ist der weitaus größte in Deutschland. Sein Volumen macht nach Angaben der BNA allein rund ein Fünftel aller Gasspeicherkapazitäten in Deutschland aus. Der Rhedener Speicher wurde im Sommer 2021 – entgegen jeder Branchenregel – nur minimal aufgefüllt. Sein Füllstand geht derzeit gegen Null.
Dasselbe gilt auch für andere Gazprom-eigene Lagerstätten. So liegt der Füllstand des Speicher Haibach bei Salzburg, nach Rheden der zweitgrößte in Mitteleuropa, aktuell ebenfalls unter zehn Prozent. Er versorgt neben Österreichs Industriebetrieben auch die großen Chemie- und Metallunternehmen in Südbayern wie Siemens, BMW, Wacker und andere mit Erdgas.
Entgegen allen Branchenregeln hat die Gazprom-Tochter Astora ihren Riesenspeicher in Rheden im Sommer 2021 kaum gefüllt. „Pünktlich zum Kriegsbeginn“ in der Ukraine war Deutschlands größter Gasspeicher praktisch leer.
Der Grund für die „Gasspeicher ohne Gas“ liegt im Rückblick auf der Hand. Die russische Seite hat offenbar schon im Sommer 2021 damit begonnen, die leeren Speicher als Druckmittel gegen Deutschland zu nutzen. „Dass die seit Sommer nicht mehr befüllt haben, ist eindeutig strategische Kriegstreiberei“, zitiert der Norddeutsche Rundfunk (NDR) Michael Sterner, den Leiter der Forschungsstelle Energiespeicher an der Technischen Hochschule Regensburg. „Die anderen Speicherbetreiber habe sich alle anders verhalten“, ergänzt Peter Markewitz, Energieforscher am bundeseigenen Forschungszentrum Jülich. „Insofern liegt der Verdacht nahe, dass das interessengesteuert war.“
Erdgas – für die Wirtschaft unverzichtbar
Für Deutschlands Wirtschaft ist Erdgas als Brennstoff in allen Stufen des Produktions- und Handelsprozesses von größter Bedeutung. Mehr als 40 Prozent des deutschen Gasverbrauchs fallen in Industrie und Gewerbe an. Die wichtigsten industriellen Verbraucher sind die Bereiche Chemie, Metallerzeugung und -bearbeitung, Nahrungs- und Genussmittel, Papier und Glas/Keramik. Die Risiken, die im Falle eines russischen Gas-Embargos auf die deutsche Wirtschaft zukämen, hat „Zukunft Gas“, eine Brancheninitiative der deutschen Gaswirtschaft, auf ihrer Website deutlich beschrieben.
Zur Sicherung der Gasversorgung müssen die Gasspeicher daher künftig vor jedem Winter auf ein Mindestmaß aufgefüllt werden. Auf ein entsprechendes Erdgas-Speichergesetz haben sich erst kürzlich alle EU-Staaten und das Europaparlament geeinigt. Dementsprechend müssen alle Gasspeicher in der EU in diesem Jahr im November zu 80 Prozent gefüllt werden. In Deutschland gelten noch strengere Bestimmungen. Hier verlangt das neue Gesetz eine Befüllung zum 1.11. von 90 Prozent.
Grüner Wasserstoff soll Erdgas als Haupt-Brennstoff ablösen
Perspektivisch zielen Regierung und große Wirtschaftsverbände gemeinsam darauf ab, die „Brückentechnologie“ Erdgas schon bald durch einen neuen, CO2-frei verbrennenden Treibstoff zu ersetzen. Grüner Wasserstoff, gewonnen aus erneuerbaren Energien, soll den fossilen Energieträger Erdgas als „Industriebrennstoff“ so rasch wie möglich ablösen. In ihrer „Nationalen Wasserstoffstrategie“ vom Juni 2020 hat schon das „alte“ Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) unter CDU-Minister Peter Altmaier dieses Ziel für die Jahre nach 2030 verbindlich festgeschrieben.
Im umfirmierten Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) will Habeck das Tempo der Umstellung auf den „klimafreundlichen“ Wasserstoff weiter forcieren. In seinem Osterpaket vom April 2022 hat er angekündigt, den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft „massiv zu beschleunigen“.
Zu schaffen sein wird das nur, wenn die Privatwirtschaft schon bald damit beginnt, kräftig in die Wasserstoff-Technologie zu investieren. Veronika Grimm, Volkswirtschafts-Professorin an der Universität Erlangen und eine der fünf „Wirtschaftsweisen“, weiß auch warum. „Gesamtwirtschaftlich gesehen kommen 90 Prozent aller Investitionen aus der Privatwirtschaft – und nur zehn Prozent vom Staat. Es muss uns gelingen, den Riesentanker der Privatinvestitionen in Richtung „nachhaltige Investments“ zu schieben, wenn wir die ehrgeizigen Ziele erreichen wollen.“
Aufmacherfoto: Adobe Stock
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