22.06.2022 – Kategorie: Technik & Innovation

Schott testet Glasherstellung mit Wasserstoff erstmals unter realen Produktionsbedingungen

In einem vierwöchigen Pilotprojekt im Herbst 2022 will der Glas-Marktführer bis zu 35 Prozent Erdgas durch den CO2-armen Treibstoff ersetzen. Den Wasserstoff für die Testphase liefern die Stadtwerke Mainz.

Kein anderes Land Europas ist so stark in der Glasherstellung engagiert wie die Bundesrepublik Deutschland. 150 Unternehmen produzieren pro Jahr rund 7.400 Tonnen Glas – vom Flachglas für Fenster oder Handy-Monitore bis zu Behältern wie Trinkflaschen und Impfstoffampullen. Mit 54.000 Beschäftigten hat die deutsche Glasindustrie 2020 einen Umsatz von 9,1 Milliarden Euro erzielt.

Extremer Energieverbrauch in der Glasherstellung

Der dickste Fisch im deutschen Glas-Teich ist die Schott AG in Mainz. Mit 6.400 Beschäftigten im Inland (17.400 weltweit) ist „Schott-Glas“ in Deutschland mehr als doppelt so groß wie sein nächster Konkurrent. Der Branchenprimus ist schon seit vier Jahren bemüht, eine der größten Herausforderungen der Glasherstellung offensiv anzugehen: die extreme Abhängigkeit von der permanenten Versorgung mit dem fossilen Brennstoff Erdgas.

Infografik: Welcher Industriezweig brauch am meisten Erdgas?
Keramik- und Glasherstellung findet immer unter Hochtemperatur-Bedingungen statt. Die Schmelzöfen werden bislang fast ausschließlich mit Erdgas befeuert – und verursachen so hohe Treibhausgas-Emissionen.

Als eine der energieintensivsten Branchen der deutschen Industrie waren die Glashersteller zuletzt häufig Gegenstand besorgter Berichterstattung. Denn gemeinsam mit den Keramik-Kollegen haben die Glasproduzenten 2021 fast 60.000 Terajoule an Erdgas verbraucht – nach Chemie, Ernährung, Papier und Metallherstellung der fünftgrößte industrielle Verbrauchersektor in Deutschland (siehe Grafik).

Teilnahme am „Power-to-X“-Programm des Bundesforschungsministeriums

Schon vor einigen Jahren hat Schott deshalb an bundes-geförderten Versuchstests im Rahmen des BMBF-Programms „Power-to-X“ (P2X) teilgenommen. Dort sollte im Vorfeld der „echten Produktion“ die Frage geklärt werden: Lässt sich Erdgas zu Teilen (oder irgendwann ganz) durch den klimafreundlichen Brennstoff Wasserstoff ersetzen? Lassen sich dabei in den Brennöfen ähnlich hohe Temperaturen bis 1700 Grad Celsius erzielen wie bei der Erhitzung durch reines Erdgas? Und hat diese Brennstoff-Substitution unerwünschte Auswirkungen auf die Glasarten, die dabei hergestellt werden?

Die Versuchsreihe wurde im März 2021 mit einem „grundsätzlichen positiven“ Ergebnis abgeschlossen. Zwar hatte sich dabei ergeben, dass der Wasserdampf, der bei der Reaktion des H2-Gases mit Sauerstoff entstand, das Endergebnis doch in einem erkennbaren Maß beeinflusste. Aber da Schott seither weiter an der neuen Brenner-Technologie gearbeitet hat, geht der Konzern nun die nächste Stufe an: die Beimischung von Wasserstoff zum Erdgas „unter tatsächlichen Produktionsbedingungen“ – in einem zeitlich begrenzten Herstellungszyklus von zunächst vier Wochen.

Absolute Pionierarbeit in der großtechnischen Fertigung

Es ist weltweit das erste Mal, dass im Schott-Werk in Mainz ein so hoher Prozentsatz an Wasserstoff einer rein Erdgas-betriebenen Hochtemperatur-Produktion beigegeben wird. In drei jeweils zehntägigen Versuchsphasen will Schott im August 2022 den Wasserstoffanteil am Erdgas-Wasserstoff-Brennergemisch stufenweise hochfahren – von Null auf bis zu 35 Volumenprozent.

Der Wunsch des Unternehmens ist es, mit dem Experiment mehr über die Auswirkungen des Einsatzes von Wasserstoff auf Schmelzprozesse in der Glasherstellung zu lernen. Denn schon seit 2020 hat sich der Marktführer ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. In seinem Strategieprogramm „Zero Carbon“ will er bis 2030 alles technisch Mögliche tun, um CO2-Emissionen weitgehend zu vermeiden – und am Ende auf einen Null-Ausstoß des klimaschädlichen Gases zu kommen.

EU-Förderung unterstützt Innovation in der Glasherstellung

Auch im Fall des bevorstehenden Fertigungstests kann das Unternehmen mit öffentlicher Unterstützung durch eine EU-Förderung hoffen, die die Landesregierung in Rheinland-Pfalz vermittelt hat. Zu den Gesamtkosten des Projekts in Höhe von 714.000 Euro leistet EFRE, der Regionalentwicklungs-Fonds der EU, einen Beitrag von 338.000 Euro.

„Wir wissen, dass wir neue Wege in der Glasherstellung gehen müssen, um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen“, erklärt Jens Schulte, im Schott-Vorstand verantwortlich für das „Zero Carbon“-Programm. „Die technologische Transformation der Glasschmelze ist ein hochkomplexer Prozess. Er ist mit technischen Hürden und hohen Entwicklungs- und Investitionskosten verbunden.“ Solche Innovationen, so Schulte, könnten nur „dank der Unterstützung staatlicher Forschungsförderung gelingen – und mit starken Partnern.“

Stadtwerke Mainz liefern immense Mengen Wasserstoff

Zu diesen Partner gehören zuvorderst die Stadtwerke Mainz. Sie haben sich verpflichtet, für die vierwöchige Testphase nicht weniger als 100.000 Kubikmeter Wasserstoff an den Glashersteller zu liefern. Die Stadtwerke stellen auch die mobile Beimisch-Station, die dafür sorgt, dass in den verschiedenen Testphasen exakt die vorgesehenen Mischverhältnisse im Brennstoffmix Erdgas-Wasserstoff eingehalten werden.  

Laut Schott-Vorstand Schulte ist die Bereitstellung einer so großen Menge industriefähigen H2-Gases „die größte Herausforderung“ in dem Pionierprojekt. Tatsächlich wäre die zuverlässige Lieferung dieser immensen Menge derzeit wohl kaum an einer anderen Stelle in Deutschland möglich. „Wir betreiben seit 2015 im Energiepark Mainz eine weltweit beachtete innovative Elektrolyseanlage“, erläutert Tobias Brosze, Technischer Vorstand der Mainzer Stadtwerke. „Einen Teil des dort erzeugten Wasserstoffs stellt Energiepark-Partner Linde AG für industrielle Prozesse bei verschiedenen Kunden bereit.“ Um die Prozessführung „H2-ready“ zu machen, muss der Einsatz in Erdgas-befeuerten Anwendungen allerdings jedesmal neu erprobt werden.

Elementar wichtig: die digitale Steuerungstechnik

Für die zweite unverzichtbare Komponente im Projekt sorgt das IT-Team von Schott: An der Schmelzwanne müssen Experten des Unternehmens die digitale Sicherheits- und Regeltechnik so anpassen, dass sie genau den Bedingungen des ungewöhnlichen Tests entspricht. Denn aufgrund des geringeren Heizwerts von Wasserstoff (im Vergleich zum Erdgas) wird unter anderem erheblich mehr Gasvolumen benötigt.

Im Interview mit dem Branchendienst „energate“ hat Schulte jüngst erklärt, wie sein Unternehmen sich in der so weitgehend Erdgas-abhängigen Glasherstellung auf eine mögliche „Gasmangellage“ in Deutschland vorbereitet: „Für die kommenden Monate ist unsere Gasversorgung durch langfristige Lieferverträge gesichert. Wir investieren aber auch einen zweistelligen Millionenbetrag in eine zusätzliche Flüssiggas-Infrastruktur.“

Aufmacherfoto: Schott /


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